Anna Aaron – Dogs In Spirit: Das stürmische Reich der Anna Aaron

Reviews

Irgendwo in einer französischsprachigen Vorschau auf ein Konzert von Anna Aaron war zu lesen, «Anna Aaron fait parler la poudre». Schnell war die Babylon-Online-Übersetzung angeworfen – man spricht ja nicht dauernd französisch und will zwischendurch auch mal wieder was lernen – und siehe da, die Übersetzung macht prächtig Freude: «Nämlich Magermilchpulver». So stand es da am babylon'schen Bildschirm, ganz harmlos und zutraulich.

Album Review / RegioSoundCredit

Anna Aaron und Magermilchpulver, nämlich, haben etwa soviel miteinander zu tun wie Xherdan Shaqiri und ein Ballettschulausflug ins Bolschoi-Theater nach Moskau. Gar nichts also. «Faire parler la poudre» heisst natürlich was ganz anderes, so was wie «tierisch abgehen», oder, andernorts gelesen, «den Asphalt zum Singen bringen». Ein Begriff also, der vermutlich vor allem im Automobiltestjournalismus, Abteilung PS-dicke Sportwagen, benutzt wird. Männerzeugs also für Männer, die eher nicht Anna Aarons Musik hören. Sondern eben DJ Ötzi, Ballermann, Guns'N'Roses – oder Gölä, wenn sie wehmütig von «Amerika» träumen (Route 66, Freisein, dicke Steaks braten, Harley-Tuckern ... die Art von Lügenstories halt). Obwohl – der Asphalt singt für alle.

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Das Jüngste Gericht

Anna Aarons zweites Album Dogs In Spirit (Hunde im Geist anstelle des biblischen «arm im Geist») geht aber tatsächlich ab, nicht tierisch, sondern prickelnd-groovy hier und verstörend-verführend dort, poppig hier und mystisch dort. «Elijah's Chant» eröffnet das Album, ein auf Om-Frequenz gehaltenes vertontes Drama zwischen alttestamentarischem Feuersturm, perkussiv-dunklem Gospel-Gothic a là Nick Caves «Tupelo» und Jim-Morrison-/David-Edwards-/Wovenhand-hafter Beschwörung des Existentiellen der Poesie/des Gebets. Mystisch flirrend bis auf den im Heiligen Land ausgebuddelten, verwitterten Knochen runter.

Wäre der Text in «Elijah's Chant» in Hebräisch oder gar Altaramäisch gesprochen, nevermind. – Das ist die Ansage: Hier schaut uns keine Pop-Diva beim Sonntags-Brunch-Salatrüsten zu, nein: Da will jemand unseren Atem, unsere totale Aufmerksamkeit, unseren Schweiss. Der Eintritt ins Reich der Anna Aaron auf Dogs In Spirit ist also kein schrilles Schreien und Tanzen auf der antiseptischen Oberfläche des Pop-Mainstreams und auch kein feuilletongerechtes Fräulein-Befindlichkeits-Schaulaufen, sondern ein veritables Manifest der Beschwörung der dunklen, der wahren Seite der Seele. Es riecht irgendwie nach dem Jüngsten Gericht in diesem Song.

Alle Erwartungen nach drei Songs erfüllt
Dann aber folgt als zweiter Song «Sea Monsters» und das Scheunentor zum unverkrampften Mitgrooven ist weit weit weit offen. Fertig Bibelstunde. Der knackige Drive des Songs ist angereichert mit griffigen Hooklines, mitreissendem Drum und feurigem Piano und mit Textzeilen wie «there's a devil inside me» ist man immer auf der richtigen Seite. Mit dem dritten Song, der Downtempo-Hymne «Where Are You David», hat Anna Aaron eigentlich schon alles eingelöst, was an Erwartungen an ihr zweites Album – und an ihr erstes unter den Fittichen der Lausanner Künstlerinnen-und-Hit-Schmiede Two Gentlemen (Sophie Hunger) – auf der Ladentheke lag. Da stört es auch nur wenig, dass in diesem und weiteren Songs manchmal 3 oder 4 oder gar 5 Anna-Vocals-Kanäle übereinander gemischt aus den Boxen schmettern. Gnadenlos astrein produziert (und Songs mitgeschrieben und Bass gespielt) hat auf dem Album Marcello Giuliani, der seine Dienste schon für Sophie Hungers Nr.-1-Album Monday's Ghost, für den schwer angesagten Jazztrompeter Erik Truffaz oder The Young Gods («Knock On Wood») zur Verfügung gestellt hat.

Was zuerst als Minus an Dogs In Spirit auffällt – dass das Album nicht aus einem Guss daherkommt und wohl an verschiedenen Orten unter wechselnden Bedingungen/Stimmungen aufgenommen worden ist – wird nach dem zweiten Durchhören obsolet. Es groovt so herrlich wie Pferdegalopp im Sommer, verführt und entführt, leuchtet hell und dunkel und ist genau dort leise, wo der Tag in der plötzlichen Lücke einbricht und im Loch verschwindet.

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Bring back the beast

Und so geht mit jedem Song ein weiteres Fenster auf zum stürmischen Reich der Anna Aaron, die erstens einfach verflucht gut singt; manchmal mit einer flatternden Haarsträhne Fleetwood Mac vorm Gesicht («Queen Of Sound»), dann wieder in wunderbar mystischer Verzückung («The Passion») und – Jesuschrist! – in «Joanna» schlicht göttlich. Ja, da werden sich einige Fräulein-Wunders, die gerade die gesammelten Mainstream-Kanäle verstopfen, warm anziehen müssen – oder grad ganz ausziehen. Hat man die zerbrechlichen Singer-Songwriterinnen und Reisbrett-Celebrities nicht langsam ein grosses Bisschen satt? – Eben. Deshalb: Welcome Anna Aaron, bring back the beast into the pop-circus.

Und zweitens auch verdammt gute Lyrics schreibt (die grossen Themen: Liebe, Tod, Schmerz, Verzweiflung, Erlösung, Verlust, Ewigkeit), in englisch, denn diese Sprache spricht sie (auch) seit ihrer weitgereisten Kindheit. Und da ist natürlich neben der Häufung biblisch-mystischer Namen (Anna, Aaron, Eliah, David, Johanna, Mutter Maria, Teufel, Gott, Monster) auch die Black-Romantic-Färbung in einigen Songs, die Suche nach der verlorenen kosmischen Einheit und – und das fehlt den meisten Sängerinnen überhaupt – Sex.

Es wohnt tief in dieser Stimme und in einigen dieser Songs ein ursprüngliches sexuelles Drängen, ein Verlangen, das allerdings nicht an einen beliebigen Mann adressiert ist («please hold my hand» oder so'n Quatsch) oder nur ausschliesslich an eine Frau (Joanna, Madonna Mary, die Geliebte), sondern das sich – falls man hinhört – sich einfach offenbart, einem erscheint. Nicht erotisch oder esoterisch oder orgiastisch, sondern sexuell im Sinne von: reine, totale, ewige Vereinigung. Womit auch immer. Nur wenig Musik trägt soviel Verlangen in sich wie diese Musik von Anna Aaron.

Das Wesen der wahren Kunst
Und drittens: eine Intimität ausbreitet wie zum Beispiel in «Joanna»: «The world makes me impatient / I wish I was pregnant / With thunder and storm» - Die Welt macht mich ungeduldig, ich wünschte ich wär schwanger, vom Donner und vom Sturm. – Ja, das hat Anna Aaron schön gesagt, mit diesem Bild. Stimmt. Es ist kalt da draussen, nicht wahr, aber es ist warm da drinnen. Im Bauch oder im Innern des Sturms. Und, später, ist die Frucht der Schwangerschaft das Leben. Aber nicht das eigene. Oder beim Sturm: die Zerstörung. «It all came in a moment / My Body exploded / It all changed its form» – Alles kam in einem einzigen Moment, mein Körper explodierte und alle Form änderte sich. – Es scheint, als ob die Liebe hier unerreicht bleibt, aber immerhin existiert sie.

Das Wesen der wahren oder aufrichtigen Künstlerin zeigt sich darin, dass sie sich nirgendwo anders anlehnt als an ihrer eigenen Kraft, an ihrem inneren Dämon und seinem Widersacher. Dass sie nur sich selbst dient und ihrer Kunst, dass sie keine Schere öffnet im Kopf in Richtung Rezeption.

Das Wesen der wahren Künstlerin zeigt sich darin, dass sie ihr eigenes System und Reich ist. Das ist Kunst. Nur: Von wahrer Kunst kann niemand leben, ausser, man braucht sehr wenig zum Leben. Egal. – Auf der anderen Seite das System Pop: Der Popstar wird lediglich hergestellt, verpackt, ausgestattet mit einem Verfallsdatum «morgen» oder «übermorgen», als Produkt einer materiellen Welt für eine materielle Welt auf die Reise ins Scheinwerferlicht und ins Regal geschickt. – Die wahre Künstlerin aber stellt sich selber her, immer wieder, weil sie sonst stirbt. Im besten Falle erschafft sie zeitlose Schönheit.

Anna Aaron ist ganz sicher eine solche seltene Künstlerin und mit ihrem Album Dogs In Spirit und mit allen nachfolgenden wird sie sich in der wenig spirituellen Welt der Krake Popbusiness behaupten und sich hoffentlich nicht verirren wie so viele vor ihr.

Und nun also, hier – steht man da, ergriffen, und wünscht ihr viel Glück und schliesst das Fenster.

Anna Aaron – Dog In Spirit (Cover)
Anna Aaron – Dog In Spirit (Cover)

Anna Aaron – Dogs In Spirit

ist am 19. August 2011 bei Two Gentlemen Records erschienen, mit einem Beitrag des RegioSoundCredits.

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