Anna Aaron – Neuro: Auf ins unbekannte Neuroland!

Reviews

Alles neu bei Anna Aaron: Aus der geheimnisumwitterten Folk-Noir-Schamanin von 2009 ist eine offensiv agierende Pop-Grösse geworden. Aus dem schlammverschmierten Tribal-Warrior-Gesicht auf dem letzten Album ist ein futuristisch anmutendes, androgyn starrendes Antlitz geworden. Optische Strenge, kühle Ästhetik und eine technoide Oberfläche beherrschen ihr neues Neuro-Image – im Video «Linda», beim Album-Artwork und bei den Pressefotos der 1985 geborenen Basler Musikerin. Image und Sound sind aber nicht dasselbe. Davon hier.

Album Review / RegioSoundCredit

Aus der Tiefe des zweieinhalbjährigen Raum-Zeit-Kontinuums seit der Platte Dogs In Spirit präsentiert sich uns mit Neuro eine Künstlerin, die auf dem Pfad der grossen Themen weiterschreitet und sie sich als selbstbewusstes Frau-Wesen aneignet. Ganz so wie Natasha Khan (Bat For Lashes), Leslie Feist, Anna Calvi oder Chan Marshall (Cat Power); allesamt tierisch coole Künstlerinnen und Musikerinnen wie Anna Aaron auch. Sie machen es einem nie wirklich einfach – dafür aber leicht, sie als Komplizinnen der eigenen grossen Sehnsucht einzuverleiben. Dafür ist Popmusik schliesslich da. Und wenn dir ihre Musik im Leben hilft, hilf gefälligst auch der Musikerin in ihrem Leben. Kauf ihre Platten, verteidige ihr Werk, etc. Geben und Nehmen, the old In-Out.

Das Gesamtpaket Neuro – wie man so unschön sagt – ist etwas unentschlossen, zu ordentlich, sehr anspruchsvoll angelegt, auf Internationalität getrimmt. Das internationale Format hat Neuro auf jeden Fall, das Album wurde in London eingespielt, mit einer komplett neuen Mannschaft. Produziert hat David Kosten, als Musiker sind vorab Kosten selber, der neue The-Cure-Schlagzeuger Jason Cooper sowie Ben Christophers von Bat For Lashes im Boot. Während das 2011-er Album Dogs In Spirit in Lausanne entstanden ist, atmet Neuro nun ganz den London Style. Bei Dogs In Spirit wurden die Songs von Marcello Giuliani produziert, der auch Bass und Gitarre spielte; in der Band damals auch Alberto Malo, Benoit Corboz, Andrea Espereti und andere. Die sind nun alle über Bord. Tabula Rasa. Von der Dogs-In-Spirit-Crew ist niemand mehr dabei. Ausser Anna Aaron natürlich. Und ihr Label und Management Two Gentlemen, Lausanne.

Anna Aaron © Sabine Burger 2014
Anna Aaron © Sabine Burger 2014

Hohe Erwartungen und die alten Fragen

Alles neu also. Nicht ganz. Bereits auf einem Demo von 2010 findet sich der Song «Heathen» (heidnisch), aber auf Dogs In Spirit hatte er es nicht geschafft. Jetzt erblickt «Heathen» das Licht des Universums auf Neuro und die Unterschiede zwischen Demo und fertiger Produktion sind charakteristisch für die Entwicklung der Anna Aaron. 2010 klang «Heathen» – nur mit elektrischer Gitarre, minimalem Schlagzeug und ihrer Stimme aufgenommen – sehr bluesig, swampig, erdig. Auf Neuro kriegt der Song bereits im Intro eine Orgel hingestellt, dann viel Synthy-Gefiepse, eine straighte Bassdrum und viel Echo auf der Stimme. Der Song wurde verchromt, in ein 80ies-Wave-Gewand gesteckt. Überproduziert? Nicht unbedingt, denn London 2014 ist sicher eher Dubstep als 80s-Orgel.

Sie singe auf ihrem neuen Album über ihre reale Umgebung, sagt Anna Aaron in einem Interview, «über Städte, Elektrizität und das Internet.» Zusammen mit Anna Aarons Inspirations-Verweis auf den SciFi-Schriftsteller William Gibson sind die Erwartungen des Hörers erstmal hoch angesetzt. Man hofft, ein hybrides Popalbum zu entdecken, 2014, eines vielleicht, dass Gary Numan Frage von 1979 endlich beantwortet: «Are Friends Electric?» Oder eines, das James Blake «Limit To Your Love» mit den Augen von Kate Bush fortschreibt in den interstellaren Pop-Raum.

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Wilder Neurohunger

Auf den ersten Songs «Case», «Stellarling» oder «Girl» ist aber nichts von Internet und Elektrizität zu finden, sondern viel Persönliches, ein warmes Piano, engelsgleicher Gesang und Worte wie Angel, Heart, Birds, wieder Heart, Geld, Liebe Tod, Ruhm. «Linda» ist ein wunderbar modellierter Song über die Unschuld der Liebe und deren Verlust; «Off» wiederum ist ein sphärisch schwebendes Flehen von grosser Kraft. Erst im wilden «Neurohunger», dem achten Song des Albums, schiebt eine dreckige Gitarre den Song in Shoegaze-TripHop-Manier vor sich her und erinnert ein wenig an die Überhits von Massive Attack («Safe From Harm» etc.). Dieser Song schreit nach Remixes.

Kleiner Exkurs, der sich wegen des Albumtitels aufdrängt: William Gibson, dem Anna Aaron in den Liner Notes dankt, ist nicht der Erfinder der Gibson-Gitarre, sondern ein amerikanischer Schriftsteller, der in seinem Buch «Neuromancer» (1984) vermutlich erstmals die Begriffe Cyberspace und Matrix verwendet hat. Kein Leichtgewicht also. Neuro, der Albumtitel, ist dem Buchtitel «Neuromancer» von Gibson entnommen und mit wenig Phantasie kann der Literatur- und Popbesessene auch «New Romance» sagen, oder eben: New Romantics. Die in dieser Schublade versammelten britischen Synthesizer-Bands wie Spandau Ballet, Duran Duran, Culture Club, Boy George, Visage, Bronski Beat oder Talk Talk gaben von Anfang bis Mitte der 80-er Jahre den neuen, androgynen Stil und Dresscode vor, während Punk und New Wave ihre überstrapazierten Garderoben und Körper gerade in der Drogenklinik, auf der Sozialhilfe oder im Leichenschauhaus entsorgten. Nicht wirklich zum New Romanticism Movement gehörten Depeche Mode, obwohl sich frühe Songs wie «Nodisco» noch viel, viel schlimmer anhörten. Gleichzeitig nahmen Industrial und Electric Body Music (EBM) an Fahrt auf, schraubten an der komplett kalten Bösheit ihrer Sounds und ihres Images rum – und plötzlich wars vorbei mit bunten, elektrischen Neu-Romantiker-Partys. Immerhin bis Acid House und Rave um die Ecke der Fabrikhalle kamen ... aber das ist eine andere Geschichte. Ende des Exkurses in die britischen 80-er Jahre!

Was sich auch immer geändert hat in und um Anna Aaron seit 2009 – sie wirkt immer noch ein wenig allein. Asketisch. Und trotzig. Nur wenige können Introvertiertheit so expressiv rüberbringen wie Anna Aaron. Es schlummert da eine grosse Künstlerin. Auf Neuro aber scheint sie aus einem unfertigen Schlaf, aus einem unfertigen Traum aufzuwachen. Nichts ist wirklich bewältigt, sie sucht noch die Fäden ihrer Existenz – nicht die der Allgemeinheit im Online-Zeitalter – und so ist Neuro auf halbem Weg der Kompass abhanden gekommen. Hätte es eine britische Platte auch für den UK-Markt werden müssen – worauf die neue Crew ja hindeutet –, ist das nicht gelungen. Hätte es die Neue Innerlichkeit ins Overdose-Zeitalter der bunten Apps und hybriden Intelligenz überführen sollen, bleibt uns Anna Aaron Antworten schuldig, siehe Image. Vielleicht ist das neue Image aber auch nur gewollte Täuschung, irritierende Blendung. Immerhin: Neuro ist tatsächlich ein Hybrid, man kann das Album als Blues-Benziner fahren oder als modernen Elektro-Schlitten.

Auf ins Neuroland!
Freuen können wir uns aber auf eine Fülle von berührenden und obskuren und mysteriösen Entdeckungen, die im Neuroland auf uns warten. Auf gehts! Vergiss sofort, was hier geschrieben steht, es ist schon Vergangenheit. Denn eines ist Anna Aaron gewiss: eine sehr speziell talentierte Zeitenreisende auf ewiger Entdeckungsfahrt, fasziniert vor der Unermesslichkeit des Seins und der möglichen Einheit von allem. Die Zukunft gehört ihr, schon ziemlich lange.

Anna Aaron – Neuro (Cover)
Anna Aaron – Neuro (Cover)

Anna Aaron – Neuro

(Two Gentlemen/Irascible) erscheint am 28. Februar 2014 als CD, Doppel-LP und digital mit einem Beitrag des RegioSoundCredits des RFV Basel.

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