Mistral – Chaise en plastique: Zwölf Chansons, die jedem Leben gut tun.
Eines muss man den berühmten französischen Chansonniers ja lassen: Singen konnten sie alle nicht. Aber erzählen, Bilder heraufbeschwören, Existentielles benennen, Sehnsüchte teilen, Trost spenden, aus kleinen Dingen grosse machen, sich einmischen, Revolutionen anzetteln ... – oh ja, das konnten sie.
Doktor Fisch
Doch so richtig verstanden habe ich mit meinem Schulfranzösisch – panisch eingeprügelt in muffigen Lektionen zwischen Bodensee and Alpstein, bevor es mit 15 endlich nach Paris ging, o là là – die Herren und Damen vom rauchenden Fach ja auch nicht. Oder nur nach nachmittagelangen Expeditionen in die Seitentäler meines Dictionnaires. Es hat sich aber gelohnt. Ob Jacques Brel, Georges Brasson, Charles Aznavour, Joe Dassin, Yves Montands, oder auch Urgestein Jean Gabin: Der gab gar nie vor zu singen, sondern sprach einfach mit seiner Reibeisenstimme und musste seine rauchende Gitanes im Mundwinkel gar nicht extra stören. Das war schon ... très français. Très cool war das.
Alles lange her. Und wer im Januar 2015 an Paris denkt, hat weniger die Poesie gewordenen Chansons als französisches Nationalheiligtum vor Augen und Ohren (Brel: Les prénoms de Paris), sondern den kranken Terror gegen Pressefreiheit und Andersdenkende. La Grande Nation – war einmal.
Chanson heisst zuhören, glauben. Alles ist gut.
Mistral aus Basel kommen mit ihrem ersten Chanson-Pop-Album Chaise en plastique also in einem schwierigen Moment der Geschichte ans Licht der Musikwelt.
Es gibt zwei Dinge, die partout nicht gehen: Terror natürlich. Und Nostalgie. Nostalgie verklärt die Zeit, die einmal war und in den Augen der Nostalgiker natürlich: besser war. War sie nicht – einfach anders. Nostalgiker vermissen ihre Jugend. Dafür kann die Gegenwart ja nichts. Heutige Chansonniers – wie übrigens auch die italienischen Cantautori oder die griechischen Rembetiko-Sänger – laufen also Gefahr, als ewiggestrige Nostalgiker oder gar als Patriotische Front innerhalb der Populärmusik beschimpft zu werden. Das ist natürlich manchmal ungerecht, aber so ist die Welt.
Obwohl: Wenn die ganze westliche Welt den Blues hat, warum nicht einfach die Lieder singen, die den Blues mal für eine Weile vom Bistrotresen fegen? Eben.
Und was, wenn man Frankreich und das Chanson einfach liebt? Wie die vier von Mistral? Dann macht man es einfach, voilà. Mistral beschwören nicht die guten alten Zeiten, sie konzentrieren sich einfach auf den Kern jedes Liedguts: dem Leben neben den Strapazen auch eine Zeit der Unbeschwertheit, der kleinen Flucht, des sozialen Miteinanders, der Geschichten von nebenan und des Feierns abzutrotzen. Eine Fete, die nicht aus blöder Partymusik besteht, sondern aus purer Freude an Musik, französischer Sprache und diesem gewissen Moment, der zum Beispiel in Mistrals Song – pardon: Chanson «Tout va bien» beschrieben wird: «Der Wind pfeift eine Melodie und bringt mir ein Lächeln». Genau so läuft das in der Welt des Chanson. Chanson heisst zuhören, glauben. Alles ist gut. Allem zum Trotz. Man ist ja nicht mehr 15.
Dafür steht auch der Plastikstuhl auf dem Cover des Mistral-Albums gleichen Namens: Chaise en plastique. Der Song handelt vom profanen Alltag, ein Mann, der die Alltage im Stress der Verpflichtungen (Job, Kinder, Wochenplanung, vergessene Umarmungen ... der Scheiss halt) erlebt und sich eigentlich nur nach seinem geliebten Plastikstuhl sehnt, einer Oase der Freiheit, wo er zehnmal die gleiche Zeitung lesen könnte und ... und sonst gar nichts, vraiment vraiment. Da kommt ein flottes Tempo auf, das ist feine Musik. Weder kompliziert noch anstrengend, weder überambitioniert noch bei den alten Haudegen abgeschaut. Einfach ein Lied. Und für ein paar Minuten ist die Welt eine andere.
Und natürlich zitiert Sänger Markus Gisin auch die Klischees des allfranzösischen Universums, in «Bâle – Paris» zum Beispiel, wo sich Croissants, Camembert und Pigalle die Hand geben. Wer es sich ab zu erlaubt, ohne Grund der Traurigkeit nachzuhängen, höre sich das berührende «Anne-Sophie» an, ein Lied, das wunderbar vom Altsein erzählt, vom Pétanque spielen, vom Kaffeetrinken, vom Meer im Kopf und vom Spiel, das keinen Gewinner braucht. Keine grosse Geschichte. Aber diese.
Da haben sich vier erfahrene Musiker und Eltern (Markus Gisin als Sänger und Gitarrist, früher in der Basler Rockband Zamarro), Jana Landolt (Schlagzeug und Gesang, bei den Pikes, früher bei der Zürcher Band Rosebud), Boris Witmer (Gitarre, Debonair, Tour-Gitarrist bei den Lovebugs) und Yves Neuhaus (Kontrabass, Klavier, bei The Amber Unit, klassischer Geiger) zusammengefunden und geben dem Chanson Pop mit ihrer neuen Band Mistral eine frische Brise mit auf den Weg in die unbekannte Zukunft. Zwölf Chansons, die jedem Leben gut tun. La vie est belle, wie es in «Le jour nous attend» heisst. Hip und cool sein können wir, wenn wir tot sind.
Und? Kann er nun singen, der Nichtraucher?
Oder wie ich früher westentaschenphilosophierte, in den Ferien in Südfrankreich: Im Strassencafé ist es nicht wichtig, den Pastis zu trinken; wichtig ist nur, ihn zu bestellen und auf ihn zu warten und in die Welt rauszuschauen. – Mistral können das viel besser beschreiben und besingen und bespielen, unaufgeregt, engagiert, musikalisch beseelt, flott und warm.
Und doch noch zurück zur Behauptung am Anfang: Kann der Chansonniers und Nichtraucher Markus Gisin auch wirklich singen? Nun, etwas kurzatmig und mit etwas weniger Bass und Resonanzraum als Jean Gabin, aber: doch doch, mais oui.
Mistral – Chaise en plastique
(Globâle Records/Irascible) ist am 23. Januar 2015 als CD und digital erschienen.