Harvey Rushmore & The Octopus – The Night: Surfen in dunklen Untiefen
Das Presseinfo zu diesem Album liest sich wie eine Seite aus Moby Dick, wobei der Wal Moby Dick nun als vielarmiger Octopus erscheint und Gegenspieler Käpt’n Ahab nun Harvey Rushmore heisst: «Die Wellen schlagen gegen das Boot und plötzlich vor ihm: er, der Octopus und Harvey weiss, das ist der Moment. Das ist das Jetzt, das Alles oder Nichts, kein gestern und kein Morgen, nur Harvey und der Rausch, der Blutrausch und der Mond, der Blutmond und der Octopus, das Tanzen am Abgrund, über der Tiefe beginnt.»
Doktor Fisch
Der Tanz am Abgrund: Hier könnten wir anstelle von Moby Dick auch Denis Johnsons Buch Already Dead – A California Gothic an irgendeiner Stelle aufschlagen und würden auf ähnlich abgründige Szenerien des mystisch aufgeladenen Fights Mann-gegen-sehr-grosses-Viech-im-Wasser treffen. Wobei das Tier ja nicht selten im Mann selber steckt. Er bekämpf also sich selber – oder westentaschentiefenpsychologisch gesprochen: In jedem von uns steckt ein Octopus. Fairerweise heisst es im Presseinfo zur Platte dann aber doch noch, es sei «ein in atemlosem Takt runtergehackter Schundroman». Hm. Keine grosse Literatur im schnittig’ Sound-Gewand?– schade!
Aber lassen wir das: Einen aufregenden Ritt über Wellenkämme und Küsten-Freeways spendieren uns die vier Gesellen von Harvey Rushmore & The Octopus auf ihrem Erstling namens The Night. Die Handlung der acht Songs spielt gefühlt an der in nächtliches Schwarz getauchten Westcoast der USA, Ende der 50er oder frühe 60er-Jahre: The Fireballs, The Belairs und Dick Dale & His Del-Tones haben soeben die Surf-Musik erfunden, die Hells Angels rattern die Küste rauf und runter, Ronald Reagan ballert in patriotischen Hollywood-Klamotten ein paar Einheiten Komantschen weg oder jagt als U-Boot-Käp’n eine Packung Japsen in die Luft, Ed Wood wiederum dreht sehr schlechte Science-Fiction-Filme wie etwa Plan 9 From Outer Space – und alle hassen den Kommunismus.
Zum Glück erfindet Russ Meyer gleich darauf Faster, Pussycat! Kill! Kill! und macht dreckige Subkultur salonfähig. Ob Harvey Rushmore damals schon geboren war? Wir wissen es nicht. Wir wissen nicht mal, ob es den ominösen Harvey jemals gegeben hat. Mit dem Patriotenfelsmassiv Mount Rushmore scheint die Figur des Harvey eher nichts zu tun zu haben. Rätsel über Rätsel! Obskurer Shit!
«Octopus Ride»: verkannter, hypnotischer Underground-Hit
Deshalb: Rein und raus mitten in die Musik. Die ist eindeutig Retro (aber nicht Vintage). Der Sound der Basler/Aargauer Band ist psychedelisch elegant aufgeladen und surf-gerecht geerdet (bzw. gewässert) an wilden, dunklen Wellenkämmen, die an die Küste schlagen. Der Track «Octopus Ride» (s. unten) ist schon einige Zeit als Videoclip im Netz und ein noch verkannter Underground-Hit: ein hypnotischer, schneller Hot-Rod-Twang-Dark-Surf-Ritt mit James-Bond-Halleffekten und einem sexy Schlagzeug/Bass-Motor, der unter der Haube die Fahrtrichtung durchgibt (nach vorne, nach vorne, Faser Octopussy!). Zum Vinylalbum gibt’s es natürlich den Download-Code, und da ist der «Octopus Ride» als Extend Version von 8:15 min mit drauf, was Freude macht, denn es ist sicher der Ohrwurm auf dem ersten Album der Band.
Der Titelsong «The Night» startet mit Motorengeräuschen und zeigt wie schon «Octopus Ride», was die eigentliche Stärke der Band ist: cinematographisch kompatible Sounds zu generieren und zelebrieren, für flotte Cabrio-Verfolgungsfahrten im Regen, für schiefe Gangsterfilme, düstere Katastrophenfilme, krude Zombie-Schmonzetten oder eben: Mann-gegen-Tier-B-Movies. Die psychedelischen Momente verstärkt die Band in ihrem Live-Shows mit projiziertem Filmmaterial und Visuals. Die Band spielt praktisch selber in ihrem eigenen Film mit, ein Element, das Massimo Tondini (git, voc) und Jakob Läser (dr) schon mit ihrer letzten Formation – genau: Navel – eingesetzt haben. Schön auch, dass die Band ihr Album in Navel-Frontmann Jari Anttis neuem Recording Studio eingespielt hat, in Berlin, wo der seit einiger Zeit sein Wirken hinverlegt hat. Obwohl Harvey Rushmore & The Octopus absolut eigenständige Musik machen, bleibt ab und zu doch ein Navel-Sound-, Vocals- oder Gitarrenfetzen im Ohr hängen, in «Radiation» etwa. Was Freude macht.
Cooler, sauberer Sound ohne wilde Trash-Attacken
«Beneath The Sun» schlendert fast schon bittersweet daher, Romantik im Morgengrauen ist schliesslich nicht verboten. Im Song «Rusty James» packt die Band dann nochmals den Garage-Rock’n’Roll aus, bevor das Album mit «Dead Water» samt vermutlich hochgiftigen Räucherstäbchen und hypnotischen Totenrasseln sein eigenes Ende mit einer würdigen Zeremonie feiert.
Musikalisch ist The Night sehr cool und sauber gespielt und produziert, sauberer jedenfalls als die allfälligen Vorbilder wie etwa The Gun Club, The Cramps, Velvet Underground oder all die anderen Garage-Rock-Superbands. Harvey Rushmore & The Octopus wurden, uns das spürt man, im Januar 2014 für eine Kunst-Vernissage gegründet. Ihr erstes Konzert fand im Off-Space Parzelle 403 in Basel statt; im letzten Dezember gab die Band ein paar Songs in einer limitierten Kassetten-Edition heraus (69 Exemplare, bei Analogcuts, Berlin). Und nun steht nach der Plattentaufe in Basel bereits eine Club-Tour durch die Schweiz mit Abstechern nach Deutschland und Belgien an.
Wer eine ganz wilde Voodoo-Trash-Surf-Attacke erwartet, wird von Harvey Rushmore & The Octopus nicht bedient (dafür sind The Monsters und andere kultige Berserker zuständig). Wer aber einen ausschweifend-eleganten Underground-Sound- und Obskur-Filmabend in den Untiefen des Dark & Psychedelic Surf sucht, um seine/ihre Tarantino-Dancefloor-Moves auszubauen, der/die ist beim ominösen, coolen Harvey und seinem vielarmigen Kraken sehr gut aufgehoben.
Harvey Rushmore & The Octopus – The Night
(Irascible Music) erscheint am 21. April 2017 als LP und digital mit einem Beitrag des RegioSoundCredit.
Harvey Rushmore & The Octopus sind:
Massimo Tondini (git, voc; ex-Navel), Jakob Laeser (dr, harp; ex-Navel), Jonathan Meyer (bs), Stefan Cecere (Live-Visuals, key, perc).