Gina Été – Erased By Thought: Von der Auflösung der Grenzen

Reviews

Von der Auflösung der Grenzen, nicht nur in der Musik – dies der vollständige Titel dieser Review zu Gina Étés Debütalbum, das nach der viel beachteten EP Oak Tree (Juni 2019) und einer Reihe von engagierten und oft gespielten Musikvideos nun erschienen ist. Gina Été hat bereits die (damalige) RFV-DemoClinic und den RegioSoundCredit gewonnen. Nun also, tusch! liefert sie ihr Debüt, das auch als ein «Spiegel der Zeit» funktioniert, findet:

Album Review / RegioSoundCredit /

Bereit fürs grosse Ganze? Die letzten oder ersten Fragen?
Es sind konzentrierte Emotionen, die hier auftauchen, Gedanken und Dialoge die geäussert werden. Sie verhandeln globale Fragen und spannen den Bogen zum Kleinen, Persönlichen: Die neue Platte Erased By Thought der Musikerin mit dem Künstlerinnennamen Gina Été ist gar nicht einfach, nach so manchem Track schwirrt der Kopf. Der Titel ihres Albums mit zwölf spannenden Tracks hat also seine Berechtigung.

Entstanden sind die Songs der jungen Musikerin in San Francisco, wo Gina Été sie mit den Musikern Jeremie Revel, Phillip Klawitter und Noé Franklé analog aufgenommen hat. Auf bewegende, aufregende, und auch immer wieder überraschende Weise verknüpft Été politische Fragen mit persönlichen, verbindet musikalische Genres und singt wie einige ihrer Schweizer Kolleg*innen in mehreren Sprachen.

Gina Été © Nina-Maria Glahé 2021
Gina Été © Nina-Maria Glahé 2021

Leere Blicke im Naturhistorische Museum Basel

Ihre Anliegen sind eindeutig: «Coral reefs covered in plastic / German woods dissolve to brown coal» – wer hier spricht, ist es oft weniger: «Megacities make me lonely / Should one person make you whole?» – mit diesen Zeilen beginnt der Song «All Or Nothing».

Étés Stimme ist kraftvoll, begleitet von E-Gitarre, Drums und zeitweise auch Streichern, spitzt sich zum Ende hin zu, bis sie emotional zerrissen klingt und dann allmählich abebbt. Gedreht im Naturhistorischen Museum Basel, visualisiert das Video zu diesem Song ihren Appell: Kinder durchstreifen die Ausstellungssäle, die ausgestopften Tiere und die Sängerin schauen mit leerem Blick in die Kamera, ohne dass es pathetisch wirkt (s. Video unten).

Schwere Fragen, leiser Pop
Im Song «Trauma», der auf Elemente des Elektro zurückgreift und minimalistisch Melodien und Töne schichtet, ist Ginas Stimme sanft und fordernd zugleich, sie fragt eindringlich: «How does the weight of your past now cause you pain? / Can you still find enough reason to remain?». Selten werden schwere Fragen, wie hier des Schicksal eines jungen Syrers im Geflüchtetenlager auf der Insel Lesbos, mit leisem Fusion-Pop in knapp fünf Minuten so behutsam verhandelt.

In «Rastlos» schlüpft Été in eine neue Rolle. Sie singt Deutsch, erinnert dabei ein bisschen an Sophie Hunger, ein bisschen an Mine, auch ihre Stimme klingt verändert – immer noch kraftvoll, aber geschmeidiger. «Mach’s gut» ist ähnlich gestrickt: kraftvoll, aber zarter und atmosphärischer durch E-Piano und Étes melancholische Stimme, die von verpassten Chancen singt. Der Konjunktiv dominiert und darüber zeichnet sich eine Zukunft ab, die es nicht gibt: «Ich träume von der Zukunft der Vergangenheit».

«Nulle part» wiederum spielt mit atmosphärischen Pop- und Chanson-Elementen. Été singt vom Verlassen, und vielleicht auch vom Flüchten. «Ça fait longtemps que j'ai choisi / De partir, sans jamais vouloir revenir» – und überall ist Ungewissheit: «Un seul chemin, aucun début plusieurs fins / Et je ferme les yeux pour mieux voir». (etwa: «Ein einziger Weg, kein Anfang, mehrere Enden / Und ich schliesse die Augen, um besser zu sehen.»)

Gina Été © Nina-Maria Glahé 2021
Gina Été © Nina-Maria Glahé 2021

Ein Spiegel unserer Zeit

Doch Gina Été kann auch nochmal ganz anders: Im Song «Troubleshooting» geht es für einmal «nur» um technische Probleme. Ihre Stimme, diesmal eher kratzbürstig, wird begleitet von E-Gitarre, dramatischem Streichinstrument, Drums und einem männlichen Gesangs-Part. Das Ganze wirkt beinahe komisch, eine 180-Grad-Wendung – wenn der Drucker versagt und das Handy sich verabschiedet, erscheint das oft wie das Ende der Welt. «Troubleshooting» bringt diese Überhöhung von kleinen technischen First-World-Problems perfekt auf den Punkt.

Genau das ist es auch, was Gina Étés erste Langspielplatte ausmacht: eine mutige, intime Vielfalt mit überraschenden Wendungen, die beinahe überfordert, weil es keine Orientierung gibt und die gerade deswegen ein Spiegel unserer Zeit sein kann.

Gina Été – Erased By Thought (Cover)
Gina Été – Erased By Thought (Cover)

Gina Été – Erased By Thought

(Motor Entertainment / Edel, Deutschland) ist am 21. Mai 2021 als CD und digital sowie als LP (lieferbar ab 18. Juni) mit einem Beitrag des RegioSoundCredit des RFV Basel erschienen und ausser im Plattengeschäft oder bei Cede.ch auch hier erhältlich.

Gina Été live
23.06.2021  Bern, Beeflat im Progr
08.10.2021  Luzern, Neubad
Weitere aktuelle Daten auf der Website der Band.

CD/LP-Verlosung
folgt nach der Sommerpause im Newsmagazin des RFV Basel

Die Review zu Gina Étés 2019-er EP findet sich hier.

Play Video