Lev Tigrovich – Opera Semiseria: Tanzen, Träumen und treiben lassen

Reviews
Lev Tigrovich @ Nils Lucas
Lev Tigrovich @ Nils Lucas

Eine Oper mit vielen Synthies über die 80er in Osteuropa vor dem Fall der Sowjetunion – was das Basler Duo Lev Tigrovich eigentlich mal auf die Theaterbühne bringen wollte, beglückt uns nun als spannendes Debutalbum. Lass uns reinhören!

Album Review

Von Sounds, Stimmen und Arrangements

Gleich zur Ouvertüre finden wir uns irgendwo zwischen Roboter-Dancemoves, Science-Fiction und Trance-Party im Dunkeln. Xenia Wiener und Janos Mijnssen lassen uns jetzt schon erahnen, wo die Reise hingehen könnte. Mashina Vremeni ist ein sorgfältig produzierter Song mit viel Liebe zum Detail, die Sounds sitzen und die Melodien sind überraschend catchy.

Nach einem Superheldinnen-Theme, bei dessen Soundästhetik sich Mijnssens’ Hintergrund als Faber-Bandmitglied kaum verstecken lässt, kommt mit Track drei der erste Geheimtipp: Skazka bietet einen ruhigen Moment, um hinzuhören, was für schöne Sounds, Stimmen und Arrangements Lev Tigrovich liebevoll präsentieren.

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Szenenwechsel: Bei Belyj Krolik trifft dystopischer Industrial auf fröhlichen Synthpop, zusammen mit Vtoroj Akt fühle ich die politische Unruhe in der Musik - da ist Pathos, da ist Rastlosigkeit, etwas Stolzes und Erfülltes, etwas Unzufriedenes und Wut.

Das Cover Million Alyh Roz («Million Scarlett Roses») danach, offenbart das Pop-Potential des Basler Duos. Und doch kommt dieser Song mit einem Streicher*innen-Arrangement daher, das darüber seinesgleichen sucht. Eine Freude zu hören!

Von dummen Polarbären

Bei Ljod, dem zweitletzten Lied, singt Xenia Wiener übersetzt:

«Ich habe dich geliebt / wie ein Polarbär das Eis
doch du hast mir gesagt / Polarbären sind dumm.»

Interpretieren darfst du diese Zeilen selbst – für mich der stärkste Song der Platte, lyrisch wie musikalisch. Auch hier trumpfen die Streicher*innen auf. Und die bewusste dynamische Produktion glänzt hier am meisten. Denn: Die ganze Platte hält sich ziemlich zurück, keine pumpenden Bässe, keine in-die-Fresse produzierten Discobeats: Stets misst sich die Musik an den Sounds, Instrumenten und Stimmen. Lev Tigrovich heben sich so klar ab von den vielen anderen retro-synth-80s-Acts, die uns zurzeit um die Ohren geschlagen werden.

Von russischer Tarantino Ästhetik

Und genauso eigen schicken uns die beiden nicht anbiedernd fröhlich ab dem Album, sondern covern ein politisches Lied: Ya Soshla S Uma, den ü30-Leser*innen wahrscheinlich bekannt unter »All The Things She Said» von t.A.T.U.. handelt von einem Mädchen, das ein anderes Mädchen liebt. Was leider bis heute nur in unseren Bubbles (wenn überhaupt) eine ganz normale Sache ist. Emotional bittet die junge Frau bei ihren Eltern um Vergebung. Die Gitarre als tragendes Element (mit fast schon tarantinoesk angehauchter Sound-Ästhetik) berührt und beunruhigt zugleich, während Xenias Stimme gefühlvoll klar darüber schwebt.

kunstvolles Klanghappening zum Tanzen

Lev Tigrovich finden sich mit Opera Semiseria inmitten eines Trends zu 80ern, Synthesizern und Drummachines, stechen aber klar heraus mit Liebe zum Detail und gefühlvollem Gesang. Eine Oper? Vielleicht. Ein gelungener Erstling? Sicher. Ein kunstvolles Klanghappening zum Tanzen, Träumen und treiben lassen? Genau das.

Lev Tigrovich - Opera Semiseria
Lev Tigrovich - Opera Semiseria

Lev Tigrovich - Opera Semiseria
Das Album ist am 14. Oktober 2022 bei sàd records erschienen und auf allen üblichen Streamingplattformen zu hören.

Lev Tigrovich sind:
Xenia Wiener und Janos Mijnssen

Lev Tigrovich

Lev Tigrovich @ Nils Lucas
Lev Tigrovich @ Nils Lucas
23/02/2024

Beiträge
7 500 CHF | RegioSoundCredit Tonträger | 2023
5 000 CHF | RegioSoundCredit Tonträger | 2021

About J.J. Löw

J.J. Löw hat einmal die Basler Musikszene durchgelebt. Als ehemaliger Festivalveranstalter, Tourmanager, Eventmanager und Agenturmitarbeiter könnte man meinen, das Business sei sein Zuhause – doch mit hunderten Shows in über 15 Ländern hat er seinen Hintern vorallem auf dem Schlagzeugstuhl wundgesessen. Musik- und Weltoffen trifft ihn das Bünzlitum nur bei der lokalen Musikszene, denn die wird immer Vorrang haben. Es berühren stimmige Songs, Authenzität und liebevolle Instrumentationen. Und: Ein gut geschriebener Song gewinnt immer gegen eine professionelle Produktion.