Sandro P. oder Der feuchte Traum von Francis Lai

Reviews
Sandro P - 2022
Sandro P - 2022

Das progressive Pop-Monster von einem Album der Basler Supergroup Sandro P. trieft voller Sinnlichkeit und Pathos und liest sich als Liebesbrief an die erotische Filmmusik aus den siebziger und achtziger Jahren.

Album Review

SANDRO P ist Kult

Der gefühlt geheimste - aber nicht mehr so geheime - Geheimtipp Basels florierender Musikszene hat sich seit der Gründung 2013 mit seinen seltenen Konzerten zum Kult heraufbeschwört. SANDRO P die Supergroup bestehend aus Basels finest Jazz- und Pop-Szene veröffentlicht nun endlich ihr langersehntes und selbstbetiteltes Debüt-Album «Sandro P» beim Basler Label Czar Of Crickets Productions.

Wer die Band oder die Musikerinnen in etlichen anderen Formationen - beispielsweise an einem durchzechten Renée-Sonntag - mal live erlebt hat, weiss wie es tönt, wenn Sandro Corbat präzis über das Griffbrett seiner Gitarre huscht und synchron mit seinen Beinen in engen Röhrenjeans auf zwei Dutzend Effektpedalen rumtänzelt. Oder die unglaubliche Hingabe bei Samuel Dühslers ganzheitlichem Schlagzeug-Spiel. Von Zunge bis Achillesferse werden hier die Drum-Felle poliert. Animalisch.

Auch Pio Schürmanns (u.a. Sound Rebellion, Zapperlipopette, viel Jazz) gekonntes Geklimper auf Synths ist schon ziemlich abgefahren. Polyfon dazu Ulrich Pletscher (u.a. Prekmurski Kavbojci, FIDO plays Zappa, viel Jazz) an den Keys und mit heiss-röhrendem Saxofon. Wenn Marco Nenniger (u.a. Nicole Bernegger, viel Jazz) am Bass die Saiten zupft, dann darf er das. So smooth wie feinste Seide. Ich denke nostalgisch zurück an die verwunschenen Soirée Lundi im Sääli.

Als wäre das nicht schon genug, ist die ursprüngliche Bandformation um zwei weitere fantastische Musikerinnen gewachsen. Und zum guten Glück, denn was wäre SANDRO P ohne die (meines Wissens erst später dazugestossenen) Bandmitglieder Mirjana Gaçon und Andrea Thoma. Mirjana Gaçon, die über ihre Violine streicht, als würde sie mit einem Messer Butter auf Zimmertemperatur auf ein Brot streichen. Ein Spiel wie Butter eben.

Mit ihrer gewaltigen Stimme bietet Andrea Thoma (Amoa, Juniper), eine krasse Bereicherung für das Projekt und schenkt uns mit ihrem Timbre eine gute Portion Weirdness und Verträumtheit à la Björk oder Enya.

Sinnlicher Retro-Erotik-Kino-Soundtrack

Beim Durchhören von «Sandro P» kam bei mir die Frage auf, wofür eigentlich das P bei SANDRO P steht. Ist es eine Abkürzung für Pop, Progressivität oder doch ganz naheliegend (und ein bisschen humoristisch gelesen) für Porno?

Die Musik ist irgendwie schon sehr erotisch. Das liegt nicht nur am geübten Handwerk der Musiker*innen, sondern auch an den musikalischen Vorlagen derer sich die Band bedient. Der Sound erinnert nicht nur an das Flair eines französischen Küstenorts. Er spielt mit dessen Mythos. SANDRO P erzeugen auf dem Album akustische Traumbilder der französischen Riviera mit Stücken, die Sinnlichkeit als ästhetische Kategorie in der Musik neu aufwerten. Hierbei zelebrieren die Basler*innen eine musikalische Liebeserklärung an die erotische Filmmusik der 70iger und 80iger-Jahre. Ein stimmiges Repertoire, das Neuinterpretationen von Francis Lai’s Kult-Melodien aus Emmanuelle und Bilitis, oder Stücken von Ennio Moriccone ebenso umfasst, wie ihre vom Genre inspirierten eigenen Kompositionen.

Die dreizehn Songs auf «Sandro P» ziehen sich lasziv aus und entfalten sich zu einem unvorhersehbaren Feuerwerk der Gefühle.

Einmal durch das Album mit Skorski

Nun wollen wir aber mal loslegen mit der Albumbesprechung. Ich versuche dieses Album in einem Kurzdurchlauf irgendwie zu fassen:

Im Opener Loupnoir bauen sich Synth- und Gitarrenarpeggi getreu nach J.S. Bach auf, um nach einem Kammermusik-Zwischengang mit darüber schwebendem Gesang, in einem Fegefeuer-Doom-Endspiel zu sterben.

Der zweite Track Sandy P ist dabei wesentlich lüpfiger. Funky Basslines und tighte Drums tragen die Synth-Soundscapes. French-Funky-Disco-Party oder so. Mit «You dream, a dream, you dream a dream» lullt uns die Stimme ein.

Und weiter geht’s mit - Dub? Ok, denk ich mir und dann ist da wieder dieses Gitarrenspiel. Corbats Begeisterung für Präludien, Fugen, Sonaten, und wie das alles so heisst in der klassischen Musik, schimmert durch. P.S. Das zeigt sich auch in seinem Nebenprojekt Apoidea.
Auf jeden Fall diese Fusion in Sébastien geht erstaunlich gut zusammen. Ápropos: Diesen Song von SANDRO P könnte ich mir auch ziemlich sehr gut live performt auf der Dubstation- Bühne am legendären Fusion Festival vorstellen.

Veuve: Ein Song mit Myriaden von Kaskaden. Synths verlieren sich im Song. Die Violine heult schwermütig. Ich bin komplett lost und begeistert gleichzeitig. Das Bariton Saxofon zeigt hier den Weg und der Bass pumpt unentwegt.

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So tönt Erlösung denk ich mir. Was für ein Aufbau. Bei 21st Century stimmt alles. Verwaschene Synths und zerbrechliche Streicherarrangements fügen sich geschmeidig in den Klangteppich von Stimme und Rhythmus-Sektion. Erinnert an den Soundtrack zum Film Drive.

Bei Evantail Jurassique muss ich schmunzeln. Die Vokal-Laute erinnern an eine Parodie von Gainsbourg und Birkins «Je t‘aime moin non plus».
Ah und P.S.: Reptiloide sind wahrscheinlich die wahren Drahtziehenden hinter allem Übel auf der Welt.

Nach Jurassic Park sind wir im Paradies gelandet. Paradise tönt weniger nach Adam und Eva, sondern eher nach einer feurigen Liebes-Szene in Lateinamerika aus einem bekannten Geheimagent*innen-Film.

Song About: Wie eine dunkle Wolke schwebt die Melancholie auf diesem Song. Etwas ziellos schleppen sich die Instrumente durch die Strophe, um dann durch den Gesang mit «Hold me and i‘m gonna hold you too» endlich aufzubrechen. Für mich nicht der stärkste Song auf dem Album. Aber der Song ist stabil und gefällt mir nach dem dritten Hördurchlauf besser und besser. Das ist ein klassischer Fall eines Growers.

Im darauffolgenden Song Les fantasmes d’Emanuelle erwartet uns ein Feuerwerk. Ich muss ehrlich sagen. Ich gebe hier sehr viel Liebe für diese Neuinterpretation des Klassikers von Francis Lai. Bei so viel Pathos mutiert der Song fast schon zu einem achtziger Glamrockhit. Und der Ausbruch ist auch fast schon etwas avantgardistisch. Saxofon! Frech und Chapeau.

Die Eighties sind wieder da. Obacht Spoiler: In Blue Room kommt ein Vocoder zum Einsatz. Das Saxofon-Solo hat viel Platz und das ist gut so. Ein etwas entspannterer Track irgendwo zwischen Daft Punk, Chromatics und Kate Bush.

Diese Melodie in Melissa zieht mich schon in den Bann. Ist es ein Remix eines Ennio Morricone-Songs? Italo-Western-Vibes hat das ganze schon irgendwie. Nein, es ist auch ein Hit geschrieben von Francis Lai. Und Achtung ein Blues-Rock Gitarrensolo! Und zwar OHNE, dass es cringe ist. Sondern richtig platziert. Grande!

Drum-Salven ballern hier richtig durch, die Snare hat richtig Wumms und treibt an. Dabei versetzen mich die Synths und Streicher in den Rausch. Toller Mix denk ich mir. Sphexishness bewegt sich zwischen Mogwais Post-Rock und Ambient Drone-Effektmauern.

Bilitis: Der letzte Song auf der Platte und ich bin eigentlich schon voll. Aber OMG.
Ein Abgwöhnerli. Ein Bettmümpfeli. Und der Song ist auch sehr entspannend als Closer.
In diesem Schwergewicht an Komposition wird Francis Lai’s Génerique auf der Bilitis-Platte neu interpretiert, was cooler tönt, wie wenn man sagt, es sei ein Cover. Also wie einige Songs auf «Sandro P» ist Bilitis quasi gecovert. Aber das ist mir relativ egal, denn die Dringlichkeit der Musik ist da. Die Instrumente klimpern, wummern, shizzlen und zum Schluss dehnen sich die Musiker*innen auf diesem Album noch ein letztes Mal aus, als wären sie Marathonläufer*innen, die nach 42.5 Kilometern den Körper unbedingt runterfahren müssen. Ein sehr schönes Ende eines massiven Albums.

Von nüchterner Opulenz

SANDRO P entführen dich mit ihrem Debüt-Album in eine düstere Traumwelt. Genauer gesagt: in den feuchten Traum von erotischer Retro-Filmmusik. Die Musik ist dann auch ganz grosses Kino. Es ist dystopisch, sexy, dämonisch und unglaublich samtig. Es wird aufgebaut, abgerissen, jegliche Hoffnungsschimmer werden im Keim erstickt, um dann im richtigen Moment die erschöpften Hörer*innen mit viel Pathos und Liebe wieder herzlich zu umarmen. Wie nach einem Fondue fühle ich mich nach diesen dreizehn Songs richtig high, habe aber schwer zu verdauen. «Sandro P» von SANDRO P ist ein sehr vielschichtiges und kompositorisch sehr durchdachtes Album. Ein musikalisches Meisterwerk von nüchterner Opulenz. Ich kann es anders nicht sagen.

Sandro P - Sandro P, 2022
Sandro P - Sandro P, 2022

SANDRO P - Sandro P
erscheint am 21. Oktober 2022 bei Czar of Crickets Productions und ist auch dort erhältlich. Unterstützt wurde die Produktion durch einen Beitrag aus dem RegioSoundCredit 2020.

CD-Verlosung
Das Musikbüro verlost 1 LP von Sandro P
Teilnehmen: E-Mail ans Musikbüro senden. Es wird keine Korrespondenz geführt.

SANDRO P sind:
Sandro Corbat (Guitar & Vocoder), Marco Nenniger (Bass) Andrea Thoma (Vocals), Ulrich Pletscher (Saxophone & Keyboard), Pio Schürmann (Synthesizers & Keyboard), Mirjana Gaçon (Violin)
Samuel Dühsler (Drums)

Live
Am 20.10.22 wird die Platte im Sudhaus Basel getauft. Mit dabei Florias und Weird Fishes

Sandro P

Sandro P
Sandro P
20/10/2022

Beiträge
3 000 CHF | RegioSoundCredit Tonträger | 2020

About Claudius Skorski

Claudius Skorski (1993) geboren und aufgewachsen am Rheinknie, spielt schon seit 2009 in irgendwelchen Bands und Performanceprojekten.

Auch neben der Bühne hat sich der Basler für die Musik engagiert. Von 2012 – 2019 als Programmchef am Hill Chill, dann von 2015 – 2018 als Booker bei der Zürcher Agentur Lauter und von 2018 – 2022 als Fachgruppenmitglied beim GGG Kulturkick und Vorstandsmitglied bei Junge Kultur Basel. Daneben, dazwischen und damals unzählige kleinere Kulturgeschichten.

Der diplomierte Soziokulturelle Animator (HSLU Luzern) ist durch die Pandemie nun irgendwie in der Kunst gelandet und studiert zurzeit Bildende Kunst an der HGK Basel.